Donnerstag 31. Januar 2008 - 20h
Der Anarchokommunismus. Die Idee des freien Sozialimus.
Heinz Hug, Referat und Diskussion

Peter Kropotkin: Einige Gedanken über das Wesen des Anarchismus (1913)

Soweit wir die Geschichte der menschlichen Gesellschaft kennen, ließen sich in ihr immer zwei Strömungen des Denkens und Handelns, zwei verschiedene Tendenzen finden. Einmal die autoritäre, repräsentiert durch die Zauberer (die Gelehrten ihrer Zeit), die Priester, die Militärführer, die Eroberer usw., welche behaupteten, die Gesellschaft müsse von einer zentralen Autorität organisiert werden, welche die Gesetze mache, der zu gehorchen jedermann verpflichtet sei. Und als Gegensatz zu dieser autoritären Strömung gab es zu allen Zeiten auch eine volksnahe, welche die Gesellschaft nicht von oben nach unten organisieren wollte, sondern auf einer egalitären Grundlage, ohne Autoritäten, vom Einfachen zum Komplizierten, über die freie Vereinbarung der Individuen im Klan, im Stamm, später in der Dorfgemeinschaft und in anderen Zusammenschlüssen.
Seit alters her befinden sich diese beiden Strömungen im Kampf. Sie sind es noch heute. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte dieser Kämpfe.
Die Anarchisten verkörpern heute die zweite Strömung. Die Vertreter der Herrscher- bzw. Regierungsströmung dagegen, die ihren Ausdruck in der Kirche, im Staat und im autoritären Sozialismus findet, ignorieren - bewußt oder nicht - die konstruktive Arbeit, welche die andere Strömung im Stamm der Wilden, in der Dorfgemeinschaft, in der städtischen Kommune, in der Föderation der Gemeinden und bis heute in geheimen oder öffentlichen Vereinigungen der Arbeiter und in tausend freien, sich um tausend verschiedene Ziele herum gruppierenden Gemeinschaften geleistet hat. Sie fühlen sich dazu ausersehen, die Massen zu organisieren.
Seit ihren Anfängen arbeitet die volksnahe, antiautoritäre Strömung daran, Institutionen zu entwickeln, die den Menschen in Gemeinschaften zu leben erlauben. Die Wilden, die gerade die Eiszeit hinter sich hatten, mußten feststellen, daß unter ihnen eine Tendenz zu herrschen existierte. Um sie zu bekämpfen, um ihr einen Riegel zu schieben, genügte die individuelle Revolte nicht. Etwas anderes war notwendig.
Die Vertreter der herrschaftlichen Strömung predigten stets - so wie sie es heute auch tun - die Notwendigkeit, der „Unordnung“ ein Ende zu bereiten, indem sie eine Autorität schaffen, Gebräuche in Gesetzen festschreiben, gegenseitige Abmachungen in Verpflichtungen verwandeln und eine Religion etablieren. Die Vertreter der libertären, volksnahen Strömung mußten fortan verstehen lernen, daß sie diese Strömung nur bekämpfen konnten, indem sie ihr eine freiwillige Organisation der Gesellschaft entgegenstellten. Ihre Worte waren andere als diejenigen, die wir heute gebrauchen; doch diese Idee muß damals entstanden sein. Wir sehen jedenfalls, daß sie sich bei der Entwicklung solcher Organisationen (insbesondere in den ersten Jahrhunderten des europäischen Mittelalters) auf eine sehr große Freiheit des Individuums und auf das gleiche Recht eines jeden Individuums auf einen Teil des Bodens stützen, den der Stamm bewohnt - auf ein gleiches Recht auf Landbesitz also, das damals (außer der Ausplünderung der Feinde) die hauptsächliche Einnahmequelle darstellte.
Was wir heute als politische und wirtschaftliche Gleichheit bezeichnen, wurde von diesen primitiven Erbauern der Gesellschaft von Anfang an angestrebt. Mehr als das: Dem zum Herrschen neigenden Geist der Minderheiten der Krieger und Zauberer stellten sie den konstruktiven Geist der Massen entgegen, dem Geist des Gehorsams und der Unterwerfung denjenigen der Unabhängigkeit des Individuums und gleichzeitig denjenigen der freiwilligen Zusammenarbeit, um so eine Gesellschaft ohne Autorität zu schaffen.
In den heutigen Kämpfen zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern obliegt die gleiche Aktivität den Anarchisten. Sie wollen das freie Individuum. Doch sie wissen, daß dies weder durch Raub möglich ist, noch durch die Monopolisierung der natürlichen Reichtümer (Land, Bergwerke, Straßen, Flüsse, Seehäfen usw.), noch durch die Ausbeutung der Arbeit jener Menschen, die (freiwillig oder gezwungen) in Knechtschaft geraten sind, aus der sie sich selber wieder befreien werden.
Sie wissen auch, daß sie unter sozialen Wesen leben und niemals eine Befreiung erreichen, wenn sie sich allein, individuell - ohne auf die anderen zu zählen - zu befreien versuchen. Um zum freien Individuum zu gelangen, müssen sie daran arbeiten, sich als Gesellschaft von Gleichen zukonstituieren, in der alle die gleichen Rechte für den Zugang zu den von der Menschheit und der Zivilisation aufgehäuften Schätzen des Wissens und des materiellen Reichtums besitzen. Eine Gesellschaft von Gleichen, in der niemand gezwungen werden kann, seine Arbeit (und als Konsequenz daraus: bis zu einem gewissen Grade seine Person) zu verkaufen, und zwar jemandem, der sie auszubeuten gedenkt.
Hier liegt der Grund, daß die Anarchie gezwungenermaßen kommunistisch ist, daß sie im Schoße der internationalen sozialistischen Bewegung geboren wurde und daß der Individualist, wenn er Individualist bleibt, nicht Anarchist sein kann. […]
Was wir Anarchisten seit vierzig Jahren vorausgesehen und vorausgesagt haben - die unabänderliche Niederlage des Parlamentarismus als Mittel zur Emanzipation der Arbeiterschaft und zur Vorbereitung einer sozialistischen Gesellschaft - wird nun für jedermann sichtbar. Und diese Niederlage führt in dem Maße, wie sie erkannt wird, zu einem neuen Erwachen der Arbeiter.
Das Wichtigste besteht nun darin, einen kurzen und präzisen Ausdruck für unsere Ziele zu finden, anzugeben, in welcher Richtung wir zu arbeiten gedenken: in gleichem Maße an der Zukunft bauen wie die Vergangenheit zerstören!

(aus dem Brief an den französischen Anarchisten-Kongress im August 1913, abgedruckt erstmals in Les Temps Nouveaux, 6. September 1913)


       
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