Sonntag 3. Februar 2008 - 20h
Kolonialismus & Anti-Kolonialismus am Beispiel der indischen Unabhängigkeitsbewegung.
Lou Marin, Referat und Diskussion

Im Sommer 2007 jährte sich zum 60. Mal die Unabhängigkeit Indiens, am 30. Januar 2008 jährt sich zum 60. Mal die Ermordung Gandhis (1869-1948). Ist also die Epoche des Kolonialismus längst zu Ende, nur noch ein Relikt der Geschichte? Ist die Entkolonialisierung ein abgeschlossener Vorgang? Ashis Nandy hat einen sozialpsychologischen Begriff von Anti-Kolonialismus, nach dem der Kolonialismus sowohl die Kolonisierten wie auch die Kolonisierenden psychisch schädigt. Besonders maskuline, kriegerische, disziplinierende, vereinheitlichende, fortschrittsgläubige, produktionsorientierte – kurz: modernistische – Werte und Verhaltensweisen werden durch den Kolonialismus gefördert. Terroristische und staatsorientierte Varianten des Anti-Kolonialismus reproduzieren diese kolonialen Werte in Bewusstsein, Verhalten und Kampfformen der Kolonisierten, auch noch in post-kolonialen Gesellschaften. Aus dieser Ebene mit gemeinsamem Spieler und Gegenspieler innerhalb des kolonialen Wertekanons schert der Anti-Kolonialismus M.K. Gandhis aus, indem er sich von maskulin-kriegerischen Werten abkehrt und aus androgynen, femininen und nicht-kriegerischen Traditionen Indiens sowie der hybriden, anarchischen Tradition des Hinduismus die indigene Widerstandsform der gewaltfreien Aktion (Satyagraha) kreiert. Auf der Basis dieser Widerstandstradition nimmt diese Konzeption Gandhis auch alternative, unterdrückte, nicht-kriegerische, „sanftere“ Strömungen im Lande des Kolonisators, in Großbritannien bzw. im Westen, wahr und verbündet sich mit ihnen (z.B. non-konformistisches Christentum in Person von C.F. Andrews; George Orwell; Oscar Wilde; Virginia Woolf/Bloomsbury Group usw.). So sitzt der Anti-Kolonialismus Gandhis keinem kulturellem Relativismus auf, sondern wird zu einem alternativen Universalismus. Darin liegen die Stärke und die Radikalität des Anti-Kolonialismus M.K. Gandhis. Ashis Nandy war mit diesem Ansatz in Indien in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts Teil einer Welle sogenannter „Indigenists“ oder „kritischer Traditionalisten“ innerhalb der post-kolonialen Gandhi-Rezeption, die der indischen Tradition in ihrer Begegnung mit der europäischen Moderne wieder mehr Relevanz zugesprochen haben. Gleichzeitig stellte sein Ansatz auf kultureller Ebene einen Gegenpol zum damals wiedererstarkenden maskulinen, kriegerischen, anti-hybriden und religiös-fundamentalistischen Hindu-Nationalismus der höheren Kasten dar und ist als solche für Indien nach wie vor von Bedeutung.

Ashis Nandy (geb. 1937) ist einer der bekanntesten politischen Psychologen und Soziologen Indiens, dabei seinem unabhängigen Denken immer treu geblieben. Er gilt als Mitbegründer der weltweiten „Post-Colonial Studies“ und ist seit langem Direktor des „Centre for the Study of Developing Societies“ in Delhi. Nandy schrieb eine Reihe von Berichten zur Lage der Menschenrechte und beteiligte sich aktiv an sozialen Bewegungen gegen Krieg, für alternative Formen der Wissenschaft und Technologie, und für das Überleben von Kulturen. Er ist Mitglied der „Human Rights Initiative“ des Commonwealth, des „International Network for Cultural Alternatives to Development“ und der „People’s Union for Civil Liberties“, der ältesten und größten Menschenrechtsorganisation Indiens.


       
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